KI-Rätsel im English Theatre of Hamburg

Anthropology Merrill und RaquelThe English Theare Anthropology Merrill und Raquel Foto; ETH/Stefan Kock

„Anthropology“ – ist ein spannendes KI-Rätsel im English Theatre of Hamburg


Lauren Gundersons Stück über eine Software-Ingenieurin, die sich die virtuelle Simulation ihrer verschollenen Schwester erstellt.

Was kann künstliche Intelligenz? Kann man eine vermisste oder gar tote Person virtuell wiederauferstehen lasen? Und kann diese digitale Simulation Macht über ihren Schöpfer gewinnen und zu guter letzt dessen Leben beeinträchtigen oder gar zerstören?

Fragen wie diesen geht das neue Drama der amerikanischen Autorin Lauren Gunderson nach, das nach seiner Weltpremiere 2023 im Londoner Hampstead Theatre jetzt im English Theatre of Hamburg (ETH) europäische Premiere feierte. Das Drama beginnt quasi als Ein-Personen-Stück.

Denn Merrill als Software-Ingenieurin hat sich von ihrer seit über einem Jahr verschollenen und
von ihr jeden Tag mehr vermissten jüngeren Schwester Angie eine virtuelle Kopie erschaffen. Mit
ihr interagiert sie am Bildschirm digital – ohne genau zu wissen, ob sie denn auch tatsächlich
existiert oder nur als digitale Simulation…

Lange Dialoge zwischen den Schwestern lassen beim Zuschauer Zweifel aufkommen, ob das alles tatsächlich real existiert oder vielleicht doch nur in Merrills Einbildung? Denn so nebenbei kommt heraus, dass diese eine dringend nötige psychologische Behandlung abgebrochen hat…

Obendrein trinkt sie zu viel Alkohol, die On-Off-Beziehung zu ihrer Freundin und Geliebten Raquel befindet sich in der Krise, und das Verhältnis zu ihrer drogenabhängigen Mutter Brin liegt seit Jahren in
Trümmern. Und jetzt verlangt der immer autoritärer auftretende Avatar Angie auch noch von ihr, dass sie die Verbindung sowohl zu ihrer Geliebten, als auch zu ihrer Mutter wieder aufnimmt!

Merrill folgt widerwillig diesem Zwang, doch sowohl die Begegnung mit der versöhnungsbereiten Geliebten, als auch die mit ihrer exzentrisch-hysterischen Mutter wird von der virtuellen Präsenz der Schwester überschattet…

Unter Druck gehorcht Merrill den präzisen Anordnungen Angies, wobei deren tatsächliche Existenz trotz zunehmender Eigenmächtigkeit und Macht, die sie auf Merrill ausübt, weiter ungewiss bleibt… Schließlich hat die Polizei vor Jahr und Tag sämtliche Computer, Laptops und Handys aller beteiligten Personen gründlich durchsucht, schlussendlich die Ermittlungen ergebnislos eingestellt und Angie für tot erklärt.

Das Rätselraten bleibt für den Zuschauer bis über die Pause hin offen, und alle Möglichkeiten sind
weiterhin denkbar…Erst kurz vor Schluss ergibt sich nach der Andeutung Angies, ihren eigenen Fall
lösen zu können, eine logische Erklärung. Auf diesen konnte der Zuschauer indes zuvor nicht kommen, da urplötzlich eine weitere Person auftaucht und involviert ist, die den Schlüssel zur Lösung des Rätsels liefert… Zwar taucht diese Person ebenfalls nur virtuell auf, aber ihre gefundenen Beiträge im Internet lassen aus dem KI-Rätsel schlussendlich doch noch einen echten Kriminalfall werden…


Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden, um dem Zuschauer die Spannung nicht zu nehmen. Ein dickes Lob gebührt abschließend noch den vier wunderbaren Schauspielerinnen, deren Leistung nicht hoch genug zu würdigen ist: Allen voran Carolyn Maitland als die von Selbstzweifeln geplagte Merrill, Emma Langmail als ihre virtuell zugeschaltete Schwester Angie, Rachel Morris als einfühlsame Geliebte Raquel und Catherine McDonough als überforderte Mutter Brin. Sie alle plus Regisseur Paul Glaser durften sich am Ende der Premiere über den verdienten Beifall ihrer Zuschauer freuen.

„Anthropology“ steht auf dem Spielplan noch bis zum 5. Juli 2025. The English Theatre of
Hamburg, Lerchenfeld 14, 22081 Hamburg. Tickets: 227 70 89, Internet: www.englishtheatre.de