Etwas für die ‘Recreation des Gemüths’.
Die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach gelten als „Meisterwerk der Meisterwerke“ der Musik und haben in den fast zwei Jahrhunderten ihres Bestehens nichts an Ausstrahlung verloren. Das Bemerkenswerte dabei: die Variationen wurden 1741 ursprünglich für Graf Keiserlingk komponiert, der unter Schlaflosigkeit litt und mit Hilfe dieser Musikstücke zu einer besseren Nachtruhe kommen sollte. Doch angesichts der enormen emotionalen Kraft dieser Schöpfung darf man getrost jeden als Kultur-Banausen einstufen, der dabei tatsächlich einschlummern sollte. Das Werk stellt durch seine hohen Schwierigkeitsgrad schon an sich beträchtliche Ansprüche an die Interpreten, zudem wurde es für ein zweimanualiges Instrument komponiert und moderne Instrumente mit nur einer Klaviatur bilden eine weitere Hürde bei Aufführungen. Die größten Pianisten haben sich an die Variationen herangewagt, angefangen vom kanadischen Genie Glenn Gould – der es gleich zweimal aufnahm – über den Jahrhundert-Pianisten Grigori Sokolow bis zum ungarischen Star-Klavierspieler András Schiff.
Seelische Erbauung zur rechten Zeit
In Hamburg finden die Goldberg-Variationen immer wieder ein dankbares Publikum, nicht nur wegen der besonderen Beziehung der Hansestadt zur Komponisten-Familie Bach. Dies ist generell so und im Herbst 2022 erst recht, denn seelische Erbauung in musikalischer Form kann aufgrund der derzeitigen Triple-Krise aus steigenden Energiepreisen, Kriegsangst in Europa und Klimawandel-Sorgen jeder sehr gut gebrauchen. In diese Stimmung hinein kam das Konzert von Stepan Simonian in der Laeiszhalle sehr recht. Der in Moskau geborene Musikprofessor, der an der Hochschule für Musik und Theater lehrt und als einer der großen Interpreten der Werke von Bach seiner Generation zählt, tritt ganz in Schwarz im sehr gut gefüllten Kleinen Saal der Laeiszhalle an. Auch im Outfit deutet sich also eine Kontinuität zum Werk von Bach an: Konzentration auf das Wesentliche.
Asketisch oder emotional? Warum wählen? Beides geht!
Und gleich zu Beginn wird es klar, wohin die Reise gehen wird, vorgetragen auf einem hochklassigen Shigeru Kawai-Flügel: Simonian findet einerseits zwar anscheinend viel Gefallen an der radikalen Askese eines Glenn Gould, verzichtet aber andererseits nicht komplett auf Emotionen. Bei dem hervorragenden Konzert hört man gelegentlich einen frech-kräftigen Anschlag, doch schafft Simonian auch zuvor und danach die passende akustische Umgebung dafür. Für überflüssige Schnörkeleien und Witzchen ist Simonian nicht zu haben, dennoch ist es keine sozusagen bis auf die Knochen entschlackte Aufführung. Bach’s streng symmetrisch aufgebautes Glanzstück hat, wie man heutzutage sagen würde, einen unglaublichen Flow und genau dies ist eine weitere große Aufgabe für alle Pianisten. Diesen Flow zu erhalten und auch über mehrere Variationen hinweg durchklingen zu lassen erfordert schon einen Meister an den Tasten – wie Simonian zweifellos einer ist. Der 41-Jährige benötigt für die Goldberg-Variationen 80 Minuten und das ist auch eine gute Idee. Man kennt die Variationen von anderen Interpretationen ebenso 10 Minuten kürzer, doch dieses ausgewählte Tempo ist genau das richtige für den Vortrag von Simonian, der viel Wert auf den erhabenen Aspekt der Tondichtung legt.
Bewunderung und „Bravo!“-Rufe
Für die überragende Aufführung gibt es sehr viel verdienten Applaus und Standing Ovations für Stepan Simonian. Diesen konnte sich Anne-Sophie Desrez, Markenbotschafterin von Shigeru Kawai nur anschließen: „Die Aria, mit der die Goldberg-Variationen beginnen, ist ganz meditativ und schlicht gespielt. Man hat den Eindruck, die Musik entsteht ganz langsam. Wie eine Blume, die sich langsam öffnet. Der Klang des Shigeru Kawai-Flügels besitzt alle Farben, um diese Magie zu vermitteln. Die Atmosphäre im Konzertsaal wurde immer dichter. Die Magie war im Publikum geradezu greifbar. Stepan Simonian ist ein grandioser Bach-Interpret. Es waren fast eineinhalb Stunden erstklassiger Hörgenuss. Das Konzert war großartig“.
Der Abend war ein Konzert im Rahmen der Reihe Amabile Classic. Die Konzertagentur ist von Tigran Mikaelyan, der ebenfalls als Gründer und Leiter der Neuen Philharmonie Hamburg bekannt ist.
Im Anschluss führten wir ein Interview mit dem Pianisten Stepan Simonian:
Herr Simonian, im Allgemein gelten ja Glenn Goulds Versionen der Goldberg Variationen immer noch als die Referenz schlechthin – vor allem seine erste Aufnahme. Sehen Sie das auch so? Ist er für Sie auch das ganz große Vorbild?
Ja, selbstverständlich gilt für mich Glenn Gould als einer der großen Vorbilder als Pianist. Seine Aufnahmen von Bach, unter anderem die beiden Aufnahmen der Goldberg-Variationen aus den Jahren 1955 und 1981, waren für mich die Referenzen als ich mit dem Werk anfing. Es gibt aber noch viele andere, die ich sehr schätze und genieße, zum Beispiel von meinem Lehrer Evgeni Koroliov, von Andras Schiff, Jean Rondeau, Gustav Leonhardt und noch einigen anderen.
Einigen Pianisten macht diese Jahrtausend-Komposition aber auch Angst; ganz speziell die Eröffnungs-Arie wird als so kraftvoll beschrieben, dass diese einen riesigen Berg heraufbeschwören würde, den es zu erklimmen gilt, und gleichzeitig die Angst hochkommt, dass man nicht die passenden Stiefel dafür hat. Hatten Sie dieses Gefühl auch am Anfang, als Sie sich das erste Mal an die Goldberg-Variationen gewagt haben?
Natürlich. Ungefähr einen Monat nach dem Beginn der Arbeiten daran bekommt man ein Gefühl, dass man es niemals schaffen kann. So groß und umfangreich ist das Stück. Man darf dann aber auf keinen Fall aufgeben, denn: nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.
Sie selber haben ja die Goldberg-Variationen 2019 auf CD veröffentlicht. Wie oft haben Sie diese seitdem öffentlich spielen können (Corona-Zeit!)?
Komischerweise trotz Corona relativ oft. Ich kann mich an fünf Engagements mit den Goldberg-Variation in den letzten eineinhalb Jahren erinnern.
Viele Musiker reden sehr gern andachtsvoll über die „Magie der Goldberg-Variationen“. Worin sehen Sie die Magie dieses Werks? Können Sie es aus Ihrer Sicht erklären?
Es ist relativ einfach zu beantworten, aber unmöglich zu erklären: das Werk ist außerordentlich gut geschrieben. Es gibt auf über 40 Seiten eines schweren polyphonen Textes nicht einen einzigen Takt, der nicht unglaublich gut komponiert ist. Das ganze Konstrukt von den 32 kleinen (oder auch nicht so kleinen) Stücken ist sehr meisterhaft zusammengestellt. Das alleine erklärt allerdings erklärt nicht warum die Variationen so erhaben auf das Publikum und auf den Spieler wirken. Darüber kann man diskutieren, man landet aber immer in Bereich der Mystik.
Es gibt Musiker, die erzählen, dass Ihre Wahrnehmung und Wertschätzung der Goldberg-Variationen sich im Laufe ihres Lebens verändert hat. Sie sind ja noch jung, aber haben Sie auch schon eine Veränderung zum Verhältnis zu den Goldberg-Variationen bei Ihnen persönlich erlebt?
Ja, unbedingt. Das Leben mit Goldberg ist eine lebenslange Reise, die nie aufhören kann. Mit jedem Auftritt werden die Variationen neu und anders. Jedes mal ist es ein neues und besonderes Erlebnis.
Welche Emotionen fühlen Sie, wenn Sie die Variationen spielen? Freude? Demut? Respekt? Furcht?
Alles was Sie sagen haben und auch noch wie Bach selber es so schön definierte: eine „Recreation des Gemüths“.
Zum Konzert in der Laeiszhalle: wie empfanden Sie den Abend? Ist die Atmosphäre in der Kleinen Halle gut geeignet für solch ein intimes Werk? Wie nahmen Sie das Publikum wahr? Und wie bewerten Sie selbst Ihre eigene Performance?
Das war ein sehr schöner Abend mit einem tollen und sehr aufmerksamen Publikum. Ich konnte mich an dem Abend sehr gut konzentrieren und ich glaube, dass ich in der Lage war, manche meiner Gedanken und Gefühle, und vor allem die Schönheit der Musik von Bach an die Zuhörer zu vermitteln.
Zum Instrument des Abends: es war ein Flügel von SHIGERU KAWAI, wie zufrieden waren Sie mit dem Klang und der „Spielbarkeit/Eignung“ des Flügels? Ganz speziell aus der Perspektive der Goldberg-Variationen gedacht?
Kawai generell und insbesondere SHIGERU KAWAI sind ausgezeichnete Instrumente, die mir erlauben, alles zu schaffen, was ich schaffen möchte. Das Instrument war mir auf dem Konzert eine immense Hilfe.
Was sind Ihrer Meinung nach ganz konkret die Stärken des SHIGERU KAWAI Flügels – wiederum ganz speziell aus der Perspektive der Goldberg-Variationen betrachtet?
SHIGERU KAWAI hat einen wunderbaren Ton, der sich über verschiedene Register nicht viel verändert. Das ist gerade Bach besonders wichtig.
Letzte Frage: wann werden Sie die Goldberg-Variationen das nächste Mal aufführen, gibt es schon einen Termin?
Momentan ist nichts mit den Goldberg-Variationen geplant, aber es kommt bestimmt bald eine neue Aufführung. Ich halte Sie auf dem Laufenden.
Ergänzung: in 2023 gibt es weitere Konzerte mit Shigeru Kawai-Flügeln, im Moment sind die Markenbotschafterin Anne-Sophie Desrez mit ihrem Team dabei, eine Konzertserie mit Kawai-Preisträgern zu organisieren. Im Dezember sollen das Programm mit den Namen der ausgewählten Pianisten und den Konzertterminen bekannt gegeben werden.
von Cetin Yaman