Skrjabin & Chopin einfach mal so filetiert und skelettiert

Einer der faszinierendsten Pianisten seiner Zeit, ein Künstler, der tadellose Technik mit einem forschenden musikalischen Geist verbindet: Mikhail Pletnev. Foto: Cetin Yaman

Mikhael Pletnev überrascht und begeistert mit revolutionärer Interpretation in der Laeiszhalle.

Große Gesten sind nicht sein Ding: Piano-Superstar Mikhael Pletnev kommt in den Großen Saal der Laeiszhalle, begrüßt kurz nickend das Publikum, setzt sich auf den Klavierhocker und legt mit dem Spielen los. Dazu passt auch sein Outfit, das ganz in Schwarz gehalten ist, nach dem Motto: nur keine Ablenkung, tiefstes Versinken in die Musik ist angesagt. Und genau das bietet auch der russische Maestro: seine Darbietung ist so konzentriert, dass sie meditativen Charakter hat. Das zahlreich erschienene Publikum bekommt zugleich märchenhafte, sanfte Glocken-ähnliche Töne zu hören. Das Programm ist in zwei Hälften geteilt, am Anfang stehen Alexander Skrjabins 24 Préludes (Opus 11), nach der Pause die selbe Anzahl an Préludes von Chopin. Das Ganze hat natürlich auch einen guten Grund. Skrjabin orientierte sich bei seinem Werk, das um die Wende zum 20. Jahrhundert herum entstand, an dem polnischen Komponisten. Aber er ging dabei viel weiter als manche seiner Zunftkollegen aus der Zeit, sein intensives Austarieren der Tonarten machte ihn schon früh einzigartig. Die Gegenüberstellung dieser beiden musikalischen Meisterwerke war auch deswegen eine famose Idee des vortragenden Künstlers Pletnev.

Trocken, aber poetisch: Skrjabin à la Pletnev

Wie ein zarter Schmetterling huschen die Finger des 67-Jährigen über die Tastatur. Es ist ein demystifizierter Skrjabin, den er für das Publikum in Hamburg bereit hält. Keine harten Töne sind zu vernehmen, alles fließt weich vor sich hin und ist in einer schon fast als minimal zu bezeichnenden Stilistik aufbereitet. Von Skrjabin’s Werken kann man sowieso leicht den Eindruck bekommen, dass es sich um einen etwas aus den Fugen geratenen Chopin handelt – aber natürlich auf eine geniale Art und Weise -, dies ist auch hier der Fall. Als Zuhörer sind die Assoziationen zu Chopin nach wie vor da, aber diese sind wie aus der Ferne und etwas durchgemixt. In jedem Fall ein faszinierendes akustisches Erlebnis. Ein meisterhafter, unaufgeregter Vortrag von Pletnev, der trotzdem voller Poesie ist und die Herzen erobert. Ein Piano-Spiel einerseits so im Fluss zu halten und andererseits dennoch nicht in einen zu verwaschenen, allzu sehr ineinander übergehenden Gesamtklang abzugleiten, das verdient großen Respekt. Sehr hilfreich ist ihm dabei ganz sicher sein Instrument, ein SK-EX von Shigeru Kawai. Das Flaggschiff des japanischen Klavierherstellers begleitet und unterstützt den Künstler mit seinem hervorragend eingestellten Klangbild. Dies war übrigens die famose Arbeit des Shigeru Kawai-Klavierstimmers Shinya Kurata (MPA, Master Piano Artisan), die hier auf keinen Fall unerwähnt bleiben soll. 

Filetiert, skelettiert und dennoch ein einmaliges Hörerlebnis: Pletnev’s Chopin 

Der zweite Teil ist wie anfangs dargestellt, einem Chopin-Rezital vorbehalten. Auch hier ist es ein Kaleidoskop wunderschöner Klänge, bei denen man zuerst meint, dass sie irgendwie nicht zusammengehören, dann aber mit Erstaunen feststellt, dass sie eben doch auf magische Weise von Pletnev zusammengebracht werden.

Auffallend ist auch hier die Abwesenheit von fast jeder von Chopin gewohnten Melodramatik, Dramatik sowieso. So einen Chopin hat man wohl noch nie gehört. Pletnev präsentiert einen skelettierten Chopin, bei dem sich alles in den feinen, leisen Tönen abspielt. Dieser Eindruck weitet sich auch auf die Rhythmik und Dynamik aus, die russische Piano-Legende hat sich hierzu ebenfalls eine ganz eigene Interpretation ausgedacht. Den größten Genuss hat man dabei, wenn man alle anderen Chopin-Interpretationen, die man im Kopf hat, komplett ausblendet und sich nur auf diese Version von Pletnev einlässt. Ja, das Ganze vielleicht sogar am besten als etwas ganz Neues auffasst. Hat man dies geschafft, entdeckt man aber dennoch den ursprünglichen Chopin mit seinem zwiespältigen Grundcharakter in dieser Aufführung von Pletnev, die bekannte bittersüße Melodramatik, nur in ziemlich anderem Gewand. Es ist alles im Free Floating, fabelhafte Klänge im Raum, die einfach umwerfend klingen. Die Besucher sind begeistert davon und erst nach drei Zugaben – zweimal Skrjabin und einmal Chopin – darf der Maestro sich von der Bühne zurückziehen.

John Helyar mit Anne-Sophie Desrez
Executive Producer John Helyar von der Deutschen Grammophon leitete die Aufzeichnung des Konzerts in der Laeiszhalle, hier mit Anne-Sophie Desrez von Shigeru Kawai. Foto: Cetin Yaman

Shigeru Kawai-Botschafterin ist entzückt 

Nicht nur das Publikum feiert frenetisch den Piano-Meister aus Archangelsk in Nordrussland, auch Anne-Sophie Desrez, Markenbotschafterin von Shigeru Kawai, zeigt sich entzückt von der Darbietung. „Es war ein spannender Klavierabend mit einem einzigartigen Programm. Nur ein Genie wie Mikhail Pletnev kann den Präludien Skrjabins, so wie sie zu hören waren, Nachdenken und tiefe Sensibilität verleihen. Es war ein Privileg, diese Stücke vom Maestro gespielt hören zu dürfen“, sagte sie zum ersten Teil des Abends. Der zweite Teil nach der Pause enttäuschte sie auch nicht, ganz im Gegenteil: „Chopins 24 Préludes bieten eine subtile und einzigartige Alchemie der Organisation der musikalischen Zeit. Diese Reihe musikalischer Momentaufnahmen im Wechsel von Dur- und Moll-Tonarten entwickelt sich in einer fesselnden Mischung aus Melancholie und Freude. Der Shigeru Kawai Konzertflügel war perfekt vorbereitet, um diese tief berührende emotionale Momentaufnahmen zu interpretieren“, lautete ihre fachmännische Analyse. Aber auch als Musik-Fan kam sie auf ihre Kosten: „Es war ein unvergesslicher Klavierabend voller Emotionen. Ich war wirklich sehr dankbar“, so Anne-Sophie Desrez.

Gute Nachricht für alle, die das Konzert ebenfalls hören wollen: es wurde von der Plattenfirma Deutsche Grammophon aufgezeichnet und steht demnächst im Online Archiv von Stage+ kostenlos zur Verfügung. 

https://www.stage-plus.com/de/video/live_concert_9HKNCPA3DTN66PBIEHFJCCHN

Wann spielt Mikhail Pletnev wieder in der Hansestadt?

Freunde exzellenter Pianokunst kommen in etwas über einem halben Jahr wieder voll auf ihre Kosten, das nächste Mal ist Mikhail Pletnev bereits am 24. Februar 2025 live in Hamburg zu hören. Auf seinem Klavierabend in der Elbphilharmonie wird er nur Werke von Frédéric Chopin präsentieren. Mit Polonaisen und Nocturnes ist das Programm sowohl tänzerisch als auch lyrisch ausgerichtet und auf die große Ausdruckspalette und die phänomenale Virtuosität Pletnevs zugeschnitten. Ein Konzertereignis, das man nicht verpassen sollte.

von Cetin Yaman